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Technische Beschwerdekammer: Fernwirkanordnung und ‚das Patent ist sein eigenes Lexikon‘



Technische Beschwerdekammer - Fernwirkanordnung und 'das Patent ist sein eigenes Lexikon'

Was haben die Patente „Abgesicherte Datenbereiche einer Anlage“ und „Cloud Computing für ein Prozessleitsystem“ außer einer Fernwirkanordnung für Gemeinsamkeiten?

Sehr viele, wie die aktuelle Entscheidung der Technischen Beschwerdekammer des EPA zeigt. Eine interessante Entscheidung, nicht nur in Bezug auf den genannten Vergleich dieser beiden Patente zu Fernwirkanordnungen mit Protokollumsetzern sondern auch in Bezug auf das Bonmot „Das Patent ist sein eigenes Lexikon“ (siehe EPA Entscheidung Pouch with inner container, T 0169/20).

Worum geht es?


Ganz grundsätzlich ging es um die Steuerung und Beobachtung einer Anlage zur Strom-, Wasser-, Gas- oder Telekommunikationsversorgung. Für diesen Anwendungsbereich war das Streitpatent „Abgesicherte Datenbereiche einer Anlage“ von SIEMENS (Deutschland) als Europäisches Patent angemeldet worden. Doch die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts entschied, dieses Patent zu widerrufen, unter anderem wegen mangelnder Neuheit (Artikel 54 EPÜ) bzw. mangelnder erfinderischer Tätigkeit (Artikel 56 EPÜ). Entgegengehalten wurde insbesondere das Dokument D1 – das Europäische Patent EP 2293164 A1 von ABB (Schweiz), angemeldet am 31. August 2009, mit dem Titel „Cloud Computing für ein Prozessleitsystem“.

SIEMENS legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein.
Lag Erfinderische Tätigkeit in Bezug auf den Hauptantrag vor und in Bezug auf die Hilfsanträge 1, 17 und 19, wie die Patentinhaberin im Wesentlichen geltend machte? Und war D1 zurecht entgegengehalten worden?

Streitpatent und D1 mit Gemeinsamkeiten: Fernwirkanordnung


Das Streitpatent mit dem Titel „Abgesicherte Datenbereiche einer Anlage“ betrifft ein System zum Beobachten und/oder Steuern einer Anlage, die Folgendes umfasst:
• Feldgeräte der Anlage (z. B. Sensoren oder Aktoren)
• eine "Leitstellenanordnung" mit einer "Mensch-Maschine-Schnittstelle"
• und eine Fernwirkanordnung, die Daten zwischen den Feldgeräten und der Leitstellenanordnung austauschen kann.

D1 wiederum beschreibt einen Prozess zum Beobachten und/oder Steuern. Das System ("process monitoring system") beobachtet und steuert die Anlage mittels
• Prozesswirkgeräten ("process execution devices") der Anlage, wie Sensoren, Aktoren
• oder allgemein "Feldgeräte".
In einem Ausführungsbeispiel werden beschrieben:
• eine Leitstellenanordnung
• und eine Fernwirkanordnung, deren einzelne Komponenten in einer Datenverarbeitungs-Cloud ausgebildet sein können.
Leitstellenanordnung und Fernwirkanordnung sind untereinander vernetzt.

Unterschiede zwischen Streitpatent und D1?


Die Patentinhaberin des Streitpatents argumentierte, dass es mehrere Unterschiede zwischen Streitpatent und D1 gebe.

Auch wenn grundsätzlich Fernwirkanordnungen mit Protokollumsetzern bekannt seien, sei das Neuartige bei der vorliegenden Erfindung des Streitpatents, dass dies eben in der "Cloud" geschehe. In der Fernwirkanordnung und in der Leitstellenanordnung unterscheide sich das Streitpatent daher von D1. Die Beobachtung und/oder Steuerung der Anlage werde in D1 in der Cloud computing facility erledigt und die Daten dazu von "RTUs" (Modulare Fernwirkstationen (RTUs)) geliefert, im Streitpatent dagegen sei dies eine wesentliche Funktion der "Leitstellenanordnung“ mit der Durchführung komplexer Algorithmen.

Streitpatent mit Fernwirkanordnung „in der Cloud“


Die Technische Beschwerdekammer war von diesen Argumenten nicht überzeugt. Da das Streitpatent keine näheren Angaben zur Umsetzung der in der „Cloud“ ausgebildeten Fernwirkanordnung macht, ließen sich Begriffe wie "leitstellenspezifisch" und "feldgerätespezifisch" lediglich auf die Quelle bzw. das Ziel oder den Bezug der Nachrichten richten. Und sowohl im Streitpatent als auch in D1 seien die Feldgeräte bzw. die RTUs Teil der Anlage und beobachten bzw. steuern diese.

Somit offenbare D1 ein System mit allen Merkmalen von Anspruch 1 des Streitpatents, entschied die Technische Beschwerdekammer, und dies gelte auch für Anspruch 1 von dem Hilfsantrag 1.

Aus dem Hilfsantrag 17 allerdings erkannte die Technische Beschwerdekammer zwei Merkmale als unterscheidungskräftig an. Durch unterschiedliche Verschlüsselung von jeweils unterschiedlichen Datenbereichen könne – im Unterschied zu D1 - der Zugriff auf die Daten in den verschiedenen Bereichen gemäß Streitpatent gezielt eingeschränkt werden (die Merkmale I und k).

Begründen diese Unterscheidungsmerkmale die Patentfähigkeit?

Problem-Solution-Approach


Die Technische Beschwerdekammer zog für diese Frage den sogenannten Problem-Solution-Approach heran, also die Problem Lösung der zugrunde liegenden objektiven Aufgabe.

Die Einspruchsabteilung hatte in diesem Punkt einen erfinderischen Beitrag mit der Begründung bejaht, bei einem (unterstellten) einzelnen "Betreiber" gebe es keine Motivation, die Schreib- und Leserechte für Datenbereiche einzuschränken und mit unterschiedlichen Schlüsseln zu verschlüsseln (vgl. angefochtene Entscheidung, Seite 32, Gründe 6.7).

Die Kammer stimmte dem jedoch nicht zu. Nach Ansicht der Technischen Beschwerdekammer liegt es auf der Hand, nicht nur einen Schlüssel für alle Anlagen zu verwenden, sondern für jede Anlage einen eigenen Schlüssel, vor allem, da das Streitpatent und auch D1 als Anwendungsbereiche allesamt systemkritische Infrastrukturen nennen. Die Kammer ergänzte, auch bei einem einzelnen Betreiber seien Gründe dafür zu finden, verschiedene Datenbereiche getrennt abzusichern, beispielsweise um verschiedene Personen oder Subunternehmer mit der Administration verschiedener Feldgeräte beauftragen zu können. Und Merkmal l (der Zusatz, dass die Feldgeräte und Leitstellenanordnungen zu "unterschiedlichen Betreibern von Anlagen" gehören) stelle keine technische Einschränkung dar und ist daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit bedeutungslos.

Alle Hilfsanträge, auch die Hilfsanträge 17 und 19, sind nicht gewährbar (Artikel 56 EPÜ), entschied die Technische Beschwerdekammer (T 1830/22 (Abgesicherte Datenbereiche einer Anlage/SIEMENS) 24-06-2024) und wies die Beschwerde zurück.
Der Einspruchsgrund gemäß Artikel 100 a) EPÜ i.V.m. Artikel 54 EPÜ steht somit der Aufrechterhaltung des Streitpatents wie erteilt entgegen.

Das Patent ist sein eigenes Lexikon


Vergeblich argumentierte die Patentinhaberin, dass insbesondere gemäß Artikel 69 (1) EPÜ die Beschreibung bei der Auslegung der Patentansprüche zugrunde zu legen sei, da das Patent ein "eigenes Wörterbuch" darstelle. Der Fachmann würde daher den Merkmalen f) und g) entnehmen, dass – anders als in D1- im Streitpatent implizit auch eine Protokollumsetzung vorliegen müsse.

Die Kammer ist von diesem Argument nicht überzeugt. Weder der Wortlaut von Artikel 69 (1) EPÜ ("Die Beschreibung und die Zeichnungen sind [...] zur Auslegung der Patentansprüche heranzuziehen") noch die gefestigte Rechtsprechung der Beschwerdekammern (siehe z. B. T 169/20, Gründe 1.3.4) könne eine Grundlage für das vermeintliche Konzept des "Patents als sein eigenes Wörterbuch" bilden, stellte die Technische Beschwerdekammer fest.

Ein solches Konzept könnte sich nämlich der objektiven Vergleichbarkeit eines Patents mit dem jeweiligen Stand der Technik entziehen, was wiederum mit dem Gebot der Rechtssicherheit selbstredend nur schwer vereinbar wäre.

Vielmehr können nach Ansicht der Technischen Beschwerdekammer die Beschreibung und die Zeichnungen bei der Anspruchsauslegung bestenfalls für die Bestimmung des fachkundigen Lesers und dessen Blickwinkels, aus dem ein Anspruch auszulegen ist, herangezogen werden. Die Kammer nannte dazu beispielhaft die Entscheidungen T 1924/20, Gründe 2.7, und T 1628/21, Gründe 1.1.15.

Patent verteidigen? Erfinderische Tätigkeit und Neuheit?


In der Verteidigung um Erfinderische Tätigkeit und Neuheit ist eine Argumentation mit viel Erfahrung und Fachkenntnis nötig, Über beides verfügt unserer Patentanwaltskanzlei.

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