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BGH ‚Verbundelement‘: Patentanspruch und Abgrenzung



Verbundelement: Leitsatzenscheidung des BGH

Kann sich das Patent erfolgreich von Entgegenhaltungen abgrenzen, obwohl der Patentanspruch keine konkreten Angaben zur Beschaffenheit einer Klebeschicht enthält? Der BGH urteilte zu dieser Frage mit einer Leitsatzentscheidung zur Auslegung des Patentanspruchs auf ein Verbundelement mit Klebeschicht.

Bisherige Rechtsprechung: Abgrenzung aus der Beschreibung eines Patents


Wie also sieht die bisherige Rechtsprechung in Bezug auf eine solche Auslegung von Patentansprüchen aus? Seit der Entscheidung ‚Schnellwechseldorn‘ vom 2. März 2021 (BGH, X ZR 17/19) gilt zur Auslegung von Patentansprüchen, dass ein Patentanspruchsmerkmal im Zweifel nicht so ausgelegt werden darf, dass es sich in einem Stand der Technik wieder findet, der in der Beschreibung als nachteilig bezeichnet wird und von dem es sich abgrenzen will.
In diesem Urteil wurde unter anderem vom BGH entschieden, dass die technische Lehre neu sei - und zwar begründet dadurch, dass sich das Streitpatent in der Beschreibung mit Stand der Technik auseinandergesetzt habe, von dem es sich abgrenzen wolle. Gleiches gilt auch, wenn ein bekannter Stand der Technik mit dem Oberbegriff eines Patentanspruchs gleichgesetzt ist. In dem Fall müssen laut BGH die Merkmale des kennzeichnenden Teils im Zweifel so ausgelegt werden, dass sich diese nicht im Stand der Technik wiederfinden, von dem sie sich unterscheiden wollen.

BGH ‚Verbundelement‘: Patentanspruch und Abgrenzung


Mit der BGH-Entscheidung ‚Verbundelement‘ vom 26. April 2022 (BGH, X ZR 44/20) wurde diese Rechtsprechung erweitert. In der Patentnichtigkeitssache ging es um einen Patentanspruch auf ein Verfahren zur Herstellung eines Verbundelements; aufgebaut aus zwei Deckschichten, einer Schaumstoffschicht und mindestens einer Klebeschicht. Es wurde der Vorwurf erhoben, das Patent gehe über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus und sei nicht patentfähig.
Das Bundespatentgericht (BPatG) hatte das Streitpatent 2020 für nichtig erklärt, weil es das Streitpatent durch die Entgegenhaltung NK5 (internationale Patentanmeldung 99/00559) als offenbart ansah. Die Beklagte legte gegen diese Entscheidung Berufung ein und verteidigte das Streitpatent (Europäisches Patent 1 516 720 mit Wirkung für die BRD) vor dem BGH.

Zentrale Frage in diesem Fall war: Kann sich das Patent erfolgreich von Entgegenhaltungen abgrenzen, obwohl der Patentanspruch keine konkreten Angaben zur Beschaffenheit der Klebeschicht enthält?

BGH: Patentanspruch, Entgegenhaltung und die konkrete Ausgestaltung


Der BGH überprüfte daher, ob erkennbar war, wie der Patentanspruch und die konkrete Ausgestaltung des beanspruchten Verfahrens zu der Abgrenzung zur Entgegenhaltung beitragen.

Das Gericht war der Ansicht, es sei erkennbar, dass sich das Streitpatent durch Merkmal 3.3 von NK5 abgrenzen möchte (Merkmal 3.3 = Aufbringen einer Polyisocyanurat-Reaktionsmischung auf die noch reaktionsfähige Haftvermittlerschicht). Solche Abgrenzungen können nach der Rechtsprechung ‚Schnellwechseldorn‘ für die Auslegung des betreffenden Merkmals von Bedeutung sein (GRUR 2021, 945, Rn. 22). Zur Klärung zog der BGH dafür zunächst die Zielsetzung des Streitpatents heran.

Patentanspruch: die Zielsetzung


Das Gericht erklärte, aus den Erläuterungen zur Funktion von Merkmal 3.3 und aus der vom Streitpatent verfolgten Zielsetzung, die Haftung zwischen Schaumstoff- und Deckschicht zu verbessern, ergebe sich, dass die Reaktionsfähigkeit der Haftvermittlerschicht noch in einem Umfang vorhanden sein muss, der das angestrebte Maß an Haftung ermöglicht.
Hieraus könnten aber schon deshalb keine festen Grenzen abgeleitet werden, weil Patentanspruch 1 keine bindenden Vorgaben in Bezug auf die Haftfähigkeit enthält, entschied der BGH (Rn. 37).

Haftfähigkeit und Reaktionsmischungen nicht hinreichend konkret


Zudem gebe es auch keine festen Vorgaben in Bezug auf die Stoffe, aus denen die beiden Reaktionsmischungen bestehen, sowie zu der Art und Weise, in der diese Stoffe untereinander und mit den Stoffen der jeweils anderen Mischung reagieren können.

Zu Recht habe daher das BPatG entschieden, dass Patentanspruch 1 keine festen Vorgaben dazu enthält, in welchem Umfang noch reaktionsfähige Bestandteile in der Haftvermittlerschicht vorhanden sein müssen.

Entgegenhaltungen ebenso nicht hinreichend konkret


Allerdings sah der BGH auch in den Entgegenhaltungen keine entsprechenden hinreichend konkreten Ausgestaltungen. Zwar könne als allgemeines Fachwissen angenommen werden, dass als Ursache der guten Haftwirkung eine Bildung von chemischen Bindungen zu vermuten ist und diese Bildung umso besser gelingen kann, je mehr potentielle Reaktionspartner zur Verfügung stehen. Dies werde in NK5 beschrieben. Doch um zu einer Kombination von NK5 und NK9 zu gelangen, hätte es der Erkenntnis bedurft, dass die Primerschicht in NK5 in derselben Weise wirkt wie der Klebstoff in NK9, erläuterte der BGH.
Aber obwohl beide Entgegenhaltungen (NK5 und NK9) die Wirkungsweise mit chemischen Bindungen zwischen den beiden Schichten erklären, ergebe sich nach Ansicht des Gerichts hieraus dennoch nicht, dass es gerade darauf ankommt, die PIR-Schaummischung vor dem Aushärten der Primerschicht aufzubringen.

NK5 lasse dies nicht erkennen, erklärte der BGH und führte dies genauer aus. NK5 weise zwar darauf hin‚ bei Bedarf solle ein Aushärten der Primerschicht ermöglicht werden. Doch ein Auftragen als Flüssigkeit werde nur beiläufig als eine von mehreren in Frage kommenden Methoden erwähnt - und als Alternative werde auch der Einsatz von Metallschichten mit herstellerseitig aufgetragener Primerschicht genannt. NK5 stehe daher diesem Merkmal – dem Auftragen vor dem Aushärten der Primerschicht – nicht entgegen.
NK9 wiederum stelle die Alternativen einer Aufbringung der PIR-Schaummischung während oder nach der Bildung der Klebstoffschicht als grundsätzlich gleichwertig nebeneinander.

Daher sah der BGH – anders als das BPatG – den Patentanspruch 1 als nicht vollständig offenbart an und hob die Entscheidung 3 Ni 3/19 (EP) des BPatG auf. Das Streitpatent erweise sich aus den oben aufgezeigten Gründen als rechtsbeständig, urteilte der BGH.

Als Leitsatz formulierte der BGH zur Entscheidung ‚Verbundelement‘:

„Der Umstand, dass sich ein Patent durch ein bestimmtes Merkmal des Patentanspruchs von einer in der Beschreibung angeführten Entgegenhaltung abgrenzt, vermag nur dann zu einer einschränkenden Auslegung zu führen, wenn erkennbar ist, auf welche konkrete Ausgestaltung sich die Abgrenzung bezieht.“

Fazit


Auch ein Merkmal, das im Patentanspruch nicht besonders konkret ausgestaltet ist, kann sich als beständig zur Abgrenzung gegen eine Entgegenhaltung erweisen – wenn diese das betreffende Merkmal ebenfalls nicht bzw. nicht hinreichend konkret offenbart.

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