EPO: Erweitern eines Simulationsmodells – technisch? Erfinderisch?
Ist ein Verfahren zum Erweitern eines Simulationsmodells als technisch zu sehen, vor allem mit Hinblick auf G 1/19, die Entscheidung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts im Jahr 2021 zu computer-implementierten Erfindungen und insbesondere zur Patentfähigkeit von Simulationen?
Diese interessante Frage wurde aktuell in dem Beschwerdeverfahren Augmenting a simulation model (T 300/22) vor einer Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts verhandelt, in dem es um Algorithmen für Fahrerassistenzsysteme (ADAS), virtuelle Tests und die Simulation einer reellen physikalischen Umgebung für ein Ego-Fahrzeug ging.
Die Patentanmeldung: Verfahren zum Erweitern eines Simulationsmodells
Der Oberbegriff des Anspruchs 1 des Hauptantrags in der beschwerdegegenständlichen Patentanmeldung lautet „Computerimplementiertes Verfahren zum Erweitern eines Simulationsmodells einer physikalischen Umgebung eines Ego-Fahrzeugs“.
Die Erfindung bezieht sich auf das virtuelle Testen von Algorithmen für ein „Ego-Fahrzeug“ unter verschiedenen physikalischen Bedingungen in einer Simulation.
Der Begriff „Ego-Fahrzeug“ war von der Prüfungsabteilung als unklarer Begriff bemängelt worden, doch die Beschwerdekammer entschied, dass der Begriff „Ego-Fahrzeug“ zum Zeitpunkt der Patentanmeldung bereits allgemein verwendet wurde; insbesondere im Zusammenhang mit der Prüfung von vernetzten und/oder automatisierten Fahrzeugen.
Die virtuelle Prüfung solcher Algorithmen erfordert eine Simulation der physischen Umgebung des Ego-Fahrzeugs in verschiedenen physikalischen Umgebungen (z. B. Wetter oder Geländebeschaffenheit). Die Simulation basiert dabei auf Scans von entsprechenden realen Situationen, die von Fahrern echter Fahrzeuge aufgezeichnet werden.
Die Idee des vorliegenden Patents setzt hier an: um noch nicht verfügbare Scans von neuen Umgebungsszenarien zu erzeugen und damit die Simulation zu erweitern (für die kommerzielle Simulationssoftware verwendet wird), wird ein Webportal vorgeschlagen, das dazu einlädt, Wünsche für neue Szenarien zu nennen und neue Scans in die Simulation zu laden. Sowohl die geäußerten Wünsche als auch die Scans werden laut der Patentanmeldung verifiziert und validiert.
Prüfungsabteilung wies die Patentanmeldung ab
Die Prüfungsabteilung hatte außerdem bemängelt, dass die mit dem Anspruch 1 zu erreichenden Ergebnisse als Schutzgegenstand definiert worden seien und wies auf folgende spezifische „zu erreichende Ergebnisse“ hin:
Im Anspruch 1:
(i) „Feststellung [...] eines Mangels des Simulationsmodells", und
(ii) „Behebung des Mangels“.
Und in abhängigen Ansprüchen:
(iii) Feststellung eines Mangels durch einen Kunden;
(iv) Verifizierung des Mangels durch Nachsimulation der Einstellung in einem ebenfalls mangelhaften Referenzmodell;
(v) Verifizierung und Validierung des Scans.
Die Prüfungsabteilung sah es als unklar an, welche technische Merkmale zur Erreichung dieser Ergebnisse erforderlich waren und wies die Patentanmeldung mit Verweis auf Artikel 84 EPÜ (Klarheit) ab.
Doch die Beschwerdekammer sah den Sachverhalt anders.
Technisches Problem und „zu erzielende Ergebnisse“
Die Einwände gegen die Merkmale (iv) und (v) seien aufgrund der Streichung der diese Merkmale enthaltenden Ansprüche gegenstandslos, hielt die Beschwerdekammer fest.
Die Einwände im Hinblick auf die Merkmale (i) und (ii) bzw. (iii) sah die Beschwerdekammer zudem als nicht gerechtfertigt an. Diese Merkmale spezifizieren nicht das der Erfindung zugrunde liegende technische Problem, wie es in den EPA-Richtlinien F-IV, 4.10 über „zu erzielende Ergebnisse“ behandelt wird, erklärte die Beschwerdekammer. Außerdem verlangen die Ansprüche 1 und 2 nicht, dass diese Schritte automatisch ausgeführt werden: Sie könnten genauso gut von einem Menschen an einem Computer durchgeführt werden und dann würde ein Fachmann aus allgemeinem Wissen viele Möglichkeiten kennen, wie jeder der Punkte (i), (ii) und (iii) realisiert werden könnte.
Diese Merkmale sind weit gefasst, erklärte die Beschwerdekammer, aber nicht unklar oder nicht gestützt im Sinne von Artikel 84 EPÜ.
Doch sind diese weit gefassten Merkmale als erfinderisch anzusehen?
Erweitern des Simulationsmodells – erfinderisch?
Die Beschwerdeführerin argumentierte, dass der übliche Ansatz zur Erzeugung relevanter Szenarien darin bestehe, Scan-Daten von Testfahrten über eine große Anzahl von Kilometern zu sammeln, wie z. B. in D4 beschrieben. Das eigene Verfahren erlaube das Hinzufügen eines spezifischen virtuellen Szenarios zum Simulationsmodell, und das sei neu und erfinderisch durch „UND“-Kombinationen von Bedingungen hinsichtlich des Szenarios („Setting“) und der Hardware in der Anweisung.
Die Beschwerdekammer überzeugte dies nicht. Das in D4 beschriebene Sammeln von vielen Scan-Daten führe zu einer Vielzahl und Vielfalt von neuen Szenarien. Das zum Patent angemeldete Verfahren aber komme gar nicht an diese Vielfalt heran, da die Entscheidung, welche Szenarien abgedeckt werden, vollständig von der Entscheidungsfindung der Person abhängt, die den Schritt „Feststellung eines Mangels im Simulationsmodell“ durchführt. Es handelt sich also um eine Ergänzung zu dem Ansatz aus D4 und nicht um eine Alternative zu ihm, entschied die Beschwerdekammer.
Außerdem kann das Simulationsmodell einer kommerziellen Simulationssoftware durch nachträglich generierte virtuelle Szenarien erweitert werden. Die Erfindung erfordert keine Anpassung der Simulationssoftware und/oder der Scan-Aufnahmetechnik und stellt somit keinen Beitrag der Erfindung gegenüber dem Stand der Technik dar, stellte die Kammer fest.
Erweitern des Simulationsmodells – mit Hinblick auf G1/19
Auch die in der Anweisung enthaltenen besonderen Bedingungen im Zusammenhang mit Anspruch 1 können nach Ansicht der Beschwerdekammer keine technische Wirkung erzielen. Sie charakterisieren nur eine Anweisung an eine Person (den Fahrer), es handelt sich also um eine Darstellung von Informationen im Sinne von Artikel 52 (2) d) EPÜ. Es wird im Übrigen auch nicht überprüft, ob Fahrer beim Scannen realer Situationen die Anweisungen befolgen.
Und auch nach G 1/19 ist weder die Simulation einer physischen Umgebung eines Ego-Fahrzeugs noch ein Simulationsmodell zu diesem Zweck technisch, erklärte die Beschwerdekammer mit Verweis auf insbesondere die Gründe 110, 111 und 120 in der G1/19. Somit sei auch die Erweiterung eines Simulationsmodells an sich keine technische Wirkung.
Merkmale, die nicht zum technischen Charakter des beanspruchten Gegenstands beitragen, können das Vorliegen einer erfinderischen Tätigkeit nicht begründen („COMVIK-Ansatz“, siehe T 641/00, Leitsatz I).
Lesen Sie in diesem Kontext auch gerne unseren Blogbeitrag Microsoft Synchronisierung – erfinderisch nach G1/19?
Erweitern des Simulationsmodells: vorliegend nicht erfinderisch
Die Erfindung ist nicht als erfinderisch anzusehen (Artikel 52(1) and 56 EPÜ), entschied die Beschwerdekammer und wies daher die Beschwerde zurück (T 300/22 Augmenting a simulation model /Steinbeis Interagierende Systeme GmbH).
Diese Entscheidung zeigt, wie wichtig für eine computer-implementierte Erfindung der strategisch aufgebaute und mit Fachkenntnis formulierte Entwurf einer Patentanmeldung ist.
Wir haben viel Expertise in diesem Bereich. Fragen Sie gerne und unverbindlich bei uns an, telefonisch unter +49 (0)69 69 59 60-0 oder unter info@kollner.eu.