EPA Beschwerdeverfahren per Video auch nach Pandemie
Ein EPA Beschwerdeverfahren per Video durchzuführen anstelle einer mündlichen Verhandlung mit Präsenz wurde unter Corona üblich. Doch ist das Beschwerdeverfahren per Video jetzt der Regelfall – und nicht mehr die Verhandlung in Präsenz?
Mit aktueller EPA Entscheidung T 0618/21 (Videokonferenz/KÖRBER TECHNOLOGIES GMBH) erklärt eine EPA Beschwerdekammer das Vorliegen von Zweckmäßigkeit einer Videokonferenz zum Regelfall, auch jenseits der Pandemie – und auch gegen den Willen der Parteien.
Eine interessante Entscheidung über die hochaktuelle Frage, wie das in Artikel 15a(1) VOBK 2020 gewährte Ermessen der Kammer in Bezug zu den Regelungen der G1/21 zu bewerten ist und zu dem Ende der Pandemie.
Beschwerdeverfahren per Video oder Präsenz?
Maßgeblich für die Durchführung der mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren per Video ist Artikel 15a VOBK 2020. Der Kammer steht damit ein Ermessen zu bei der Entscheidung, die mündliche Verhandlung von Amts wegen, gegebenenfalls auch gegen den Willen der Parteien, als Videokonferenz durchzuführen. Entscheidendes Kriterium ist die Zweckmäßigkeit.
Ebenso maßgeblich ist die Entscheidung G1/21. Denn im Februar 2021 legte die Kammer 3.5.02 mehrere Rechtsfragen der Großen Beschwerdekammer vor, die letztlich in der Entscheidung G1/21 mündeten. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Regelung, ob und unter welchen Voraussetzungen eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz durchgeführt werden durfte. Die Entscheidung G1/21 legt fest, dass grundsätzlich die Durchführung per Video oder Präsenz als gleichwertig anzusehen sind.
Was aber gilt, wenn eine der Parteien oder beide Parteien das Beschwerdeverfahren per Video ablehnen?
Der Sachverhalt
Einen solchen Sachverhalt gab es in der vorliegenden EPA Entscheidung Videokonferenz/KÖRBER TECHNOLOGIES. Die Beschwerdeführerin lehnte die Verhandlung per Video ab, die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) stimmte zu.
Die Beschwerdeführerin argumentierte, eine Verhandlung in Präsenz sei der Standardfall ("gold standard"), von dem nur in Ausnahmefällen abgewichen werden dürfe. Die Entscheidung G1/21 stelle dabei klar, dass eine Verhandlung nur bei Vorliegen eines allgemeinen Notfalls ("general emergency") gegen den Willen der Parteien als Videokonferenz durchgeführt werden dürfe. Ein solcher sei aber mit Ende der Pandemie nicht mehr gegeben.
Artikel 15a VOBK 2020 könne diesen Grundsatz nicht in Frage stellen, weshalb das durch Artikel 15a(1) VOBK 2020 gewährte Ermessen der Kammer nicht über die Regelungen der G1/21 hinausgehen dürfe.
EPA Beschwerdeverfahren per Video: im Regelfall
Die Beschwerdekammer widersprach dieser Argumentation und erläuterte den Ermessenspielraum und die Zweckmäßigkeit einer Videokonferenz im Kontext von G1/21. Die Regelungen des Artikels 15a VOBK widersprechen weder höherrangigem Recht, noch den wesentlichen Schlussfolgerungen der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G1/21, stellte die Beschwerdekammer fest.
Der Begriff "zweckmäßig" impliziere, dass das Format der Videokonferenz zur Erreichung des mit der mündlichen Verhandlung angestrebten Zwecks grundsätzlich geeignet und darüber hinaus auch sinnvoll (sachdienlich) erscheint. Der Wert mündlicher Verhandlungen ist, dass hierdurch der Streitgegenstand geklärt werden kann und auch die Position einer Partei. Dass auch eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung grundsätzlich geeignet sein kann, diese Ziele zu erreichen, habe die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 1/21 unter Punkt 33 bis 43 festgestellt. Dort sei auch klargestellt (siehe Gründe 40), dass eine mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz als ein faires Verfahren anzusehen ist.
Und dass die rechtfertigenden Gründe für das Abhalten einer Verhandlung als Videokonferenz nicht auf die konkret in G1/21, Entscheidungsgründe 49 im Zusammenhang mit der Pandemie stehenden Gründe beschränkt sind, sei aus der in den Entscheidungsgründen 49 verwendeten Formulierung "im Falle einer Pandemie" ableitbar, erläuterte die Beschwerdekammer.
Daher könne jeder Umstand als "guter Grund" im Sinne von G1/21 angesehen werden, der eine Videokonferenz rechtfertigt. Dazu zählen nach Ansicht der Beschwerdekammer u. a.:
• anfallende Reisezeit könne „sinnvoller“ verwendet werden
• Kosten für die Reise und eventuell notwendige Übernachtungen können eingespart werden
• unnötiger CO2-Ausstoß könne verhindert werden und Umweltschäden durch die Reise
Aus Sicht der Kammer stellt eine Videokonferenz daher sowohl im Regelfall, als auch gerade im hier vorliegenden Fall eine annähernd gleichwertige Alternative zu einer Präsenzverhandlung dar.
Zudem habe das EPA inzwischen auch die eigene IT ausgebaut, mit eigenem Rechenzentrum und Erhöhung der Bandbreiten der Netzwerke. Auch verwendeten im Frühjahr 2021 die Kammern noch Skype (mit dem z. B. kein Teilen des Bildschirms möglich war), inzwischen jedoch Zoom. Die Eingangsvoraussetzung der Entscheidung G1/21 (und zwar der Qualitätsunterschied zwischen Videokonferenz und Präsenzverhandlung) sei daher ohnehin nicht mehr gegeben.
Ermessensausübung letztlich eine Einzelfallentscheidung
Zwar könne es auch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch Situationen geben, bei denen eine Videoverhandlung nicht als gleichwertig zu einer Präsenzveranstaltung angesehen werden kann, betonte die Kammer, dies könne der Fall sei bei Verhandlungen, in deren Verlauf ein Muster in Augenschein genommen werden soll und auch bei außergewöhnlich komplexen Sachverhalten.
Welche Kriterien die Kammern bei der Ermessensausübung gemäß Artikel 15a VOBK 2020 anwenden können, sei letztlich nicht absolut zu beantworten, sondern im Einzelfall zu entscheiden, schloss die Beschwerdekammer. Die vorliegende Entscheidung schlage diesen Weg ein und versuche, die relevanten Kriterien für die Ermessensausübung aus Sicht der Kammer zu identifizieren und zu strukturieren.
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